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aus dem Skizzenbuch der Künstlerin, 2024

Jeder Mensch
nimmt Kunst anders wahr, und das ist gut und sehr bereichernd, wenn man sich darüber hinaus ins Gespräch mit anderen Menschen begibt. Im Kunst-Unterricht hatte ich das Privileg, es jeden Tag mit meinen oft sehr begabten Schülern zu erleben, und nicht selten durfte ich auch von ihnen lernen, denn es gibt immer wieder Neues zu entdecken, selbst wenn man der Ansicht ist, dass man sich schon sehr gut im Thema auskennt.
Neben den visuellen Anreizen, das jedes Kunstwerk bietet, habe ich einen weiteren gesetzt, den manche Künstler m.E. bislang unterschätzt haben, und das ist der Bildtitel. Über den Kanal der Sprache haben wir eine weitere Möglichkeit, uns mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen. Letztlich ist es nicht eine Beschäftigung mit der Kunst an sich, sondern mit sich selbst. Ich könnte sogar so weit gehen und behaupten, wer nicht bereit ist, sich mit Kunst  auseinanderzusetzen, verweigert höchstwahrscheinlich auch die Selbstbetrachtung und Selbstreflexion. Das ist den meisten Menschen nur im Moment der Kunstbetrachtung nicht bewusst.


aus dem Skizzenbuch der Künstlerin, 2024

Es macht einen großen Unterschied, ob ich eine Werkserie durchnummeriere: Bild Nr. 1, Bild Nr. 2 usw., ganz ohne Titel belasse, oder ob ich mich auf eine bewusste Suche nach einem geeigneten Titel mache. Das macht gerade bei der abstrakten Kunst einen gewaltigen Unterschied. Plötzlich ist man mit einem konkreten Thema konfrontiert, obwohl man zunächst nur Farbe und Form wahrnimmt. Assoziationsketten können in Gang gesetzt werden und schaffen einen Zugang zu einer Auseinandersetzung mit dem Werk.
Wenn man das nicht wünscht, sondern sich alleine durch die Schwingungen inspirieren lassen möchte, die beim Betrachten von den Farben und Formen ausgelöst werden, ist das selbstverständlich auch möglich.
Mehrere Zugänge zu einer Betrachtung und einem Bildverständnis sind denkbar und ausdrücklich erwünscht.


aus dem Skizzenbuch der Künstlerin, 2024

Meine erste Kunst-Ausstellung, die sich mit der Frage nach dem Zufall beschäftigt, habe ich zum Anlass genommen, Bildtitel zu wählen, die mehr oder weniger dem Zufall geschuldet sind. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt etwa 200 Bilder unterschiedlichster Formate angefertigt, aber noch keinen einzigen Titel. Die ersten 50 Titel hatte ich binnen einer Stunde generiert, indem ich zielsicher einen Griff ins Bücherregal gewagt habe. Der Zufall führte mich zu Franz Kafka und zu seiner Erzählung „Die Verwandlung“. Ich blätterte in der Ausgabe von Diogenes aus dem Jahr 1995. Dieses nur 7,5×11,5 cm große Büchlein, halb so groß wie eine Postkarte, wurde zu meinem ständigen Begleiter bei der Vorbereitung auf meine erste Kunst-Ausstellung. Diese Vorgehensweise hätte ich am Schreibtisch niemals so planen können. Ich las es kreuz und quer, vor und zurück und schrieb nur einzelne Fragmente auf, weniger als ein Satz, aber oft mehr als ein paar Wörter. Das bereitete mir solch eine große Freude, dass ich diese Übung mehrmals wiederholte, selbst als ich dachte, aus dieser Zitrone ist nichts mehr herauszupressen. Diese Fragmente habe ich meinen Bildern zugeordnet, aber nicht immer fand ich auf Anhieb ein zufrieden stellendes Ergebnis. Es war ein ständiges Abwägen, ob ein anderer Titel nicht doch passender wäre. Bei diesem Prozess fiel mir auf, dass Kafkas Schreibkunst in einen Dialog mit meinen Werken getreten ist. Ich war nur der Vermittler. Je mehr Titel den Bildern zugeordnet waren, desto mehr formte sich daraus geradezu eine zusammenhängende Geschichte. Und zwar nicht nur meine Geschichte, sondern es geht um Themen, mit denen sich die Menschen seit Jahrhunderten befassen. Eigentlich nichts Neues, könnte man einwenden. Und dennoch geschieht etwas sehr Ungewöhnliches. Die Kombination aus Zitat und Bild setzt Assoziationsketten in Gang, die den einen Betrachter schmunzeln lassen und den nächsten möglicherweise in tiefste Verbitterung stürzen, abhängig davon, wie intensiv man sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte auseinandergesetzt hat.
Es gibt also kaum ein Lebensthema, das ausgelassen wird in Kafkas kurzer Erzählung: Gesundheit und Ernährung, Bewegung, zwischenmenschliche Beziehungen, die Familie, Sorgen und Konflikte, Glaubensfragen, der Wohnraum, die Kleidung, der Konsum, die Erholung und nicht zuletzt die Frage nach der eigenen Identität und dem Sinn des Lebens und immer wieder Emotionen…


aus dem Skizzenbuch der Künstlerin, 2024

Die im Jahr 1912 entstandene Erzählung von Franz Kafka beschreibt die Verwandlung eines jungen Mannes in ein Ungeziefer und hat die Anmutungsqualität eines Märchens. Die Metamorphose manifestiert sich bereits im ersten Satz, und die Geschichte ist in seiner ganzen Ausprägung aktueller denn je.

Der Protagonist Gregor wird von seiner Familie wegen seiner ekeligen Erscheinung verstoßen und geht schließlich zugrunde. Parallel dazu entwickelt sich die Figur der Schwester Grete in die entgegengesetzte Richtung. Sie erblüht immer mehr.
Kommunikationsprobleme, aber viel tiefgründiger auch Fragen nach der eigenen Identität kennzeichnen den Handlungsstrang.
Die paarbildenden Figuren – der zurückhaltende Gregor und die aktive Grete – vereinen sich als Anteile einer einzigen Person (daher auch die ähnlich klingenden Namen Gregor und Grete).
Sein Beruf als Tuchhändler und Geschäftsreisender ist Gregor verhasst, er fühlt sich jedoch in seinem Pflichtbewusstsein gefangen und selbst als Insekt ist er bestrebt, seinen gewohnten Aufgaben nachzukommen.
Grete nahm als junges Mädchen bis zu Gregors Verwandlung keine bedeutende Rolle in der Familie ein, reift dann aber zu einer selbstbewussten, heiratsfähigen Frau heran und trägt maßgeblich dazu bei, dass Gregor stirbt: Ein Verrat am eigenen Bruder – könnte man meinen.


aus dem Skizzenbuch der Künstlerin, 2024

Wir kennen alle das Phänomen, in Situationen festzustecken, die nicht mehr zu uns passen, fühlen uns wie gelähmt und antriebslos, z.B. durch eine Krankheit, die uns heimsucht oder eine Beziehung, die einen kritischen Punkt erreicht hat.
Wenn es uns gelingt, unseren Selbstwert zu erkennen und eine lebensverändernde Entscheidung zu treffen, können wir uns wieder neu ausrichten und unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zu uns selbst wieder neu justieren.
Im günstigen Fall entwickeln wir einen neuen Lebensentwurf, der besser zu uns passt, aus dem wir wieder Energie und Freude schöpfen können.
Das Ableben von Gregor als Metapher beinhaltet ebenso Aspekte der Verdrängung, Verbannung von unliebsamen Situationen und Eigenschaften. Liebevolles Akzeptieren von Umständen und Charakterisierungen verhilft ebenso zu einer Verwandlung, die wiederum zu mehr Lebenskraft führen kann.

Die Dialektik von Werden und Vergehen, ebenso von Zufall und Fügung beinhaltet eine Fülle von Möglichkeiten, die uns unvermittelt vor die Füße fallen, ein Leben lang.
Alles Zufall?

Adriane Skunca